Glosse: Ein Startup zu Weihnachten (Internet Professionell 2/2002)

Jan, Internet-Marketing-Experte, hat sich zu Weihnachten etwas Besonderes ausgedacht. Er überrascht seine Liebe mit einem raffinierten Geschenk – einem liebevoll aufgearbeitetem Internet-Startup.

Mein Freund Jan freut sich auf Weihnachten. Denn im Gegensatz zu den vorigen Jahren weiß er, was er seiner Holden schenken will. Jan hat bei Ebay ein Schnäppchen gemacht. In einem dramatischen Endspurt hat er ein Internet-Startup ersteigert. Zwei Mark und 33 Pfennige wird er dem Anbieter überweisen. Und im Gegenzug erhält er 92 Prozent der Aktien von byebyedotcomngo. Die restlichen acht Prozent finden sich im Streubesitz. Die Privatanleger haben wohl vergessen, dass sie diese Werte noch im Portfolio haben. Oder sie haben vergessen, dass sie überhaupt ein Portfolio haben. Börsen-Psychologen nennen das Verdrängung. Oder die Online-Bank mit dem Portfolio ist bereits zum vierten Mal verkauft worden und niemand weiß, wo die Portfolios überhaupt hingekommen sind.

Byebyedotcomngo ist, oder besser gesagt war, ein Business to Business Portal für vertikale Kanäle. Zumindest steht das noch auf der Homepage. Die ist das einzige, was von dem Unternehmen übrig geblieben ist. Den Rest, etwa dreißig iMacs hat sich nach der Pleite der Vermieter unter den Nagel gerissen. Damit war zumindest eine viertel Monatsmiete des 600 Quadratmeter-Lofts abgegolten. Der Provider von byebyedotcomngo steckt selber in einem Insolvenz-Verfahren und hat die Site noch nicht vom Netz genommen.

Gestartet war Jans Weihnachtsgeschenk einst mit 250 Millionen Mark Venture Capital. Die Aktien hatten in ihrer besten Zeit einen Wert von 436 Mark und 22 Pfennigen. Der Neue Markt liebte byebyedotcomngo. Allein das „vertikale Kanäle“ löste einen wahren Kaufrausch aus. Denn vertikal bedeutet senkrecht — und die Analysten des Neuen Marktes sahen darin das sicherste Zeichen für einen senkrechten Anstieg des Börsenkurses.

Doch die Zeiten sind vorbei, die Analysten sind wieder zurückgekehrt zu ihren ursprünglichen Beschäftigungen. Sie verkaufen Luftschlösser, einige zuverlässigere haben sich als Makler für Luxus-Sandburgen einen Namen gemacht.

Mit viel Liebe fertigt Jan einen Business Plan für byebyedotcomngo an und malt ihn mit Zuckerguss auf einen großen Lebkuchen. Den Umsatz will er um mehrere Tausend Prozent auf vier Pfennige steigern. Die Pfennige klebt er mit etwas Kuvertüre auf den Lebkuchen. Und damit das Startup auch ganz schnell ein paar weitere Internet-Unternehmen aufkaufen kann, hat Jan zwei Fünf-Mark-Stücke auf einen zweiten, kleinen Lebkuchen geklebt. Auf dem Kuchen steht „Globalisierungsstrategie“. Mal sehen, vielleicht reicht das Geld sogar für eine kleine Online-Bank. Natürlich braucht ein gutes Weihnachtsgeschenk auch ein schickes Mission Statement. „We make Weihnachten festlich,“ albert Jan auf einer kleinen Glückwunschkarte.

Sogar Wuffi, Jans Pudel, bekommt ein Weihnachtsgeschenk. Den kleinen Kläffer überrascht Jan mit einem Beratervertrag. Er darf die Hälfte des Kuchens fressen.

Um dem ganzen ein wenig weihnachtlichen Glanz zu verleihen hat sich Jan noch etwas besonderes einfallen lassen. Er schickt allen Unternehmen eine Abmahnung, die das Kürzel „buy“ in ihrem Namen haben oder irgendwo auf ihrer Webseite den Begriff „buy“ stehen haben. Auch alle deutschsprachigen Einkaufsseiten sind dran. Denn „kaufen“ ist die Übersetzung von „buy“. Damit sich aber auch die Abgemahnten freuen, druckt Jan die Abmahnungen mit silberner Speziallacktinte auf rötliches Tonpapier. Und weil ein innovatives Startup auch eigene Technologie braucht, lässt sich Jan gleich „Abmahnungen auf rotem Tonpapier“ patentieren.

Mit der Aussicht auf die Abmahngebühren, dem Beratervertrag, den Globalisierungsplänen, dem Patent und dem Businessplan steht byebyedotcomngo wieder richtig gut da. Als Weihnachtsgeschenk ist das ideal: Wertvoll, symbolisch und liebevoll ausgearbeitet.

Jan kann den Heiligen Abend kaum noch erwarten. Dann bekommt seine Freundin ein ganzes Internet-Unternehmen geschenkt. Besser gesagt, sie bekommt 41 der 92 Prozent. Denn für den Fall, dass das Unternehmen aus irgendeinem Grund noch mehr an Wert gewinnt, will Jan doch lieber die Mehrheit behalten.

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