Glosse: Junk Mail von Bukowski

Oft habe ich lange und ausgiebig über Junk-Mail geflucht. Jene elektronischen Briefchen, die täglich zu fünfen in mein Postfach wandern. Und ich weiß: Mir geht es noch gut.

Andere bekommen täglich zehn oder zwanzig dieser Mails.

Doch ich habe mich geirrt als ich damals, geblendet von Wut, über die Junk-Mail und ihre Schreiber fluchte. Denn ich habe Inhalt und Bedeutung der Nachrichten unterschätzt. Spiegeln sie doch das Leben so wie es wirklich ist.

Und so etwas liebt unsere entfremdete Gesellschaft, in der es tagsüber so sehr um Marktanteile und Kohle geht, dass man fast vergisst, wozu es noch Menschen gibt. Die Wirtschaft käme auch ohne störende Individuen aus. Es reichen ein paar von Venture Capital aufgeblähte Internet-Manager, Anwälte und Politiker.

Die Werbemails erlösen uns vom Kapitalismus-Frust der New Economy. Wie Charles Bukowski offenbaren das gesamte Spektrum des Lebens: Sex, Gewalt, Geld, Frustration – die Reihenfolge spielt keine Rolle. Klar wie Kisch zeigen Sie unser Schicksal, brilliant und knapp wie Hemingway formulieren am Leben entlang.

An einem guten Tag bekomme ich alles: Adressen einschlägiger Seiten, die erst einmal die Nummer meiner Kreditkarte verlangen und ordentliche Dollar abbuchen. So manch solider Familienvater mag sich damit schon in die Pleite vernetzt haben.

Doch das ist kein Problem: Denn die nächste Mail sagt mir „make money fast“. Praktisch ohne Arbeit kann ich binnen 30 Sekunden etwa vier Milliarden Dollar scheffeln. Ich muss lediglich eine kleine Broschüre für 20 Dollar kaufen und am besten auch noch die drei anderen Broschüren für ebenso viele Dollar. In Zeiten eines angeschlagenen Euro wiegt das schwer. Wieder wird meine Karte belastet. Und auf die Milliarden warte ich nun schon seit anderthalb Jahren.

Aber das macht nix. Denn schon sagt mir die nächste Mail, wie ich auch als hoch verschuldeter Mensch ohne Geld, ohne Sicherheiten und Vermögen an eine neue Kreditkarte komme. So perfekt paradiesisch ist das Leben im Netz. Wenn ich wieder eine Karte habe, kann ich mich auch wieder auf die einschlägigen Seiten begeben. Seit meiner Kartenpleite sind schon rund 200 solcher Angebote eingegangen, die alle in Betracht gezogen werden wollen.

Also, wenn Sie das nächste Mal eine Junk-Mail bekommen, werfen sie sie nicht achtlos fort. Auch eine solche Nachricht hat das Recht gelesen zu werden. Geniessen Sie die Geschichten die das Leben schreibt. Und danken sie all jenen, die sich jeden Tag in den Vereinigten Staaten hinsetzen und sich Gedanken über Ihr Leben machen.

Veröffentlicht in PC DIREKT 12/2000

Lesen Sie hier weiter: Was ich mache, wenn ich mich auf das Schreiben konzentrieren will

—–

Informativ und journalistisch Schreiben lernen Sie in meinen Schulungen.

Mehr Information:

Schreibe einen Kommentar